Warum Zuhören ein Körperskill ist – und Tai Chi dich lehren kann

Wir glauben oft, dass wir gut zuhören. Aber in Wahrheit filtern wir – nach dem, was in uns gerade Thema ist. Eine persönliche Anekdote aus dem Tai Chi Camp zeigt, wie leicht wir das Wesentliche überhören – und was Körperarbeit damit zu tun hat.

Vier Wochen Tai Chi Chuan-Camp in Neuseeland. Hochsommer. Zwölf Stunden Zeitverschiebung. Fünf Tage Training pro Woche.

Mein Lehrer, Wee Kee Jin, ist geduldig, präzise – und wiederholt viel.
An diesem Tag war ich einfach erschöpft. Müde, reizbar, überreizt.

Beim Verlassen der Halle sagte ich zu einer Mitschülerin:
„Wenn ich heute noch einmal höre, dass ich meine Schultern locker lassen soll, krieg ich Zustände.“

Sie sah mich irritiert an. Dann sagte sie:
„Jin hat den ganzen Vormittag davon gesprochen, dass wir das Steißbein sinken lassen sollen.“

Stille. Dann Lachen.

Und in diesem Moment fiel bei uns beiden ein Groschen:
Wir hatten denselben Unterricht erlebt – aber völlig Unterschiedliches gehört.
Sie war beim Becken. Ich bei den Schultern.
Und genau das hatte jeder von uns aufgenommen.

Ein kleiner Moment. Aber er hat mich geprägt.
Denn: Das passiert ständig.

👉 Wir hören, was uns betrifft.
👉 Wir filtern durch das, was gerade in uns los ist.
👉 Und wir überhören oft genau das, was wir eigentlich bräuchten.

Im Team.
In Beziehungen.
Im Unterricht.
Im Alltag.

Tai Chi ist da ein Spiegel.
Denn es ist keine Wellnessübung.
Es ist auch keine Choreografie.
Tai Chi ist eine Kunst der Wahrnehmung.

Du lernst, mit dem ganzen Körper zu hören.
Zu spüren, was gerade ist.
Und zu merken, wo du Spannung festhältst – und wie du loslässt, ohne zu kippen.

Es geht nicht um richtige Haltungen.
Sondern um echte Verbindung.
Mit dir. Mit anderen. Mit dem Moment.

Und plötzlich wird klar:
– Stabilität braucht keine Härte.
– Zuhören ist mehr als Warten aufs Reden.
– Klarheit beginnt nicht im Kopf. Sondern im Körper.

Viele erleben das schon in der ersten Einzelstunde.
„Wie ein Aha-Moment – aber im Gewebe“, hat mal jemand gesagt.

Vielleicht ist das der Grund, warum Tai Chi auch in meiner Beratungsarbeit so präsent ist.
Denn auch Organisationen haben Spannung. Geschichte. Bewegungsrichtungen.
Auch dort geht es ums Hinhören – und ums Spüren.

Wer im Körper zuhört, hört auch im Gespräch anders.
Wer Spannung in sich erkennt, sieht sie auch im System.

Tai Chi und Kommunikation – zwei Seiten derselben Medaille.
Und vielleicht deshalb mehr als nur ein schönes Hobby.